Bei dem Anblick der auf ewig friedlich vereinten Familie neigte sie kurz ihr Haupt und bekreuzigte sich instinktiv.
Behutsam wurde Álvaro in der zweiten Reihe abgesetzt und sein Kopf andächtig zu Boden gerichtet.
Dann schritt sie zu dem kleinen hölzernen Altar und kniete davor nieder. Die Machete legte sie sacht neben sich ab, stützte die Arme gefaltet auf dem Altar ab und blickte hinauf zum wunderschönen Buntglasfenster. Diese Kirche hatte schon etwas Einzigartiges.
Unsicher räusperte Léo sich und versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen.
„Ähm... Gloria al Padre,
y al Hijo,
y al Espíritu Santo.
Como era en el principio,
ahora y siempre, por los siglos de los siglos.
Amén! (span. Gloria)
....
Ja, hallo, Padre... ich weiß, ich hab mich lange nicht gemeldet. Grüße an die Reina Madre und Jesucristo.
Ich hatte ziemlich damit zu tun, nicht zu sterben und von einem Drecksloch ins nächste zu stolpern...lo siento, das hätte ich nicht so sagen sollen. Da denkt man nicht so häufig an Dich. Ganz ehrlich, bin ich eigentlich nur hier, weil Abuela mir das als Bedingung gestellt hat, damit ich Mula bekomme... Du kennst ja Abuela, sie ist jetzt bei Dir, da muss man hochheilig schwören... Sie wollte, dass ich mit Dir rede und beichte, damit meine Seele gerettet werden kann und das ganze Drumherum.
Bis morgen trete ich ja wahrscheinlich vor Dein Angesicht, da will ich die Gelegenheit hier nutzen, mein Versprechen zu halten.
Sie konnte spüren, wie Álvaro hinter ihr versuchte, nicht verzweifelt aufzuschreien, so, wie sie mit El Padre redete.
Es war weitaus weniger schlimm, als sie befürchtet hatte. Kein Blitz war eingeschlagen, kein Blut oder Ungeziefer regnet vom Himmel und sie hatte keinen spontanen Herzinfarkt erlitten.
Im Gegenteil... sie fühlte sich irgendwie wirklich wohl hier.
Ein Weiteres Mal bekreuzigte sie sich und presste die Stirn gegen die Hände.
„Bendíceme, Padre, porque he pecado. (Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.)
Meine letzte Beichte war...irgendwann bevor die beknackten Untoten auftauchten.
Ach, lo siento, ich bin nich gut in solchen schei...ach, verdammt...“
Léo hielt einen Augenblick inne und atmete tief durch.
„Ja, ich sage viele schlimme Sachen, die ganze Zeit, also vergib mir bitte, aber das hilft, mit dem Ganzen....naja, Maultierhaufen klarzukommen.
Dass ich keinen besonders heißen Draht mehr zu Dir habe, weißt Du ja wohl schon, genauso, wie dass ich keinen heißen Draht zu Menschen habe, wenn es nicht sein muss. So von wegen nett sein....das sehe ich nicht ein, wenn es Idiotas sind...lo siento, aber ich bin ehrlich, ich sage fast immer, was ich denke. Hilfbereit bin ich auch...wenn es Sinn macht, auch wenn Du es bestimmt nicht gut findest, dass mir die Anhänge von den Leuten egal sind, weil hey, ich will Dein ganzes Volk retten, das ist schon anstrengend genug... Ja, selbstgerecht bin ich wohl auch, ich hab genug mit mir und meinen Sachen zu tun...
Das ist auch so eine Sache, ich bin andauernd sauer, weil immer irgendwelche ...Sachen passieren oder Leute einfach nur so dumm sind und ich will dann am liebsten die ganze Welt in die Luft jagen.
Was sonst...“
Sie ging im Kopf eine alte, eingestaubte Liste durch. Gott achten, die Nächsten achten, was du für Dich willst bei anderen tun...
„Unkeusche Gedanken und Taten...“
Léo musste lachen.
„Da kannst Du einfach Alles abhaken, sonst hocken wir noch nächste Woche hier rum... Moment, ich habe nie, nie Jemanden vergewaltigt...glaube ich. Nein. Ziemlich sicher nicht... Und ich werde hoffentlich noch wenigstens einmal zum Zug kommen, bevor ich abnippel, wenn Du mir da einen Kredit geben magst... Denn ehrlich, ich will Hju...auf die eine oder andere Weise...
Ich habe mir Sachen genommen, die mir nicht unbedingt gehörten, also das Meiste, was ich jetzt habe... auch wenn ich das besser finde, als es in der Gegend rumschimmeln zu lassen. Häufig waren die Leute da eh schon tot und brauchten das nicht mehr...
Genau, und da ist wohl der große Punkt. Viele, viele Menschen sind wegen mir tot oder verletzt oder was auch immer. Hab da keinen Überblick mehr. Ob die rumlaufenden Leichen, die ich erlöst habe, das irgendwie aufwiegen, keine Ahnung...
Ich habe die Liebe meines Lebens aufgegessen. Ich weiß nicht, ob das wirklich als Sünde zählt, weil Bacaris das einfach festgelegt hatte, damals auf dem Schiff, nachdem wir 4 Monate in demselben, beschissenen Raum festsaßen und nichts mehr Anderes hatten. Aber das hast Du ja sicher auch beobachtet. Er hat sich für mich umgebracht, damit ich nicht verhungere, er hat mich echt geliebt, denk ich...“
Sie hielt inne. Ihr Blick wanderte ins Leere. Einige Momente war sie einfach da und verweilte in der Vergangenheit. Es war, als wäre sie wieder dort.
Das Schwanken des Tankers. Das ständige Stöhnen und Kratzen der restlichen, verwandelten Besatzung an der verbarrikadierten Vorratskammertür, in die sich die beiden gerettet hatten. Der muffige und zugleich salzige Geruch. Der unendliche Durst. Der noch größere Hunger... Bacaris wunderschönes, eingefallenes Gesicht, als er sie das letzte Mal geküsst hatte...
Dann schien auf einmal ein Ruck durch sie zu gehen und sie holte ihre Machete hervor und fuhr die feinen Kerben entlang.
„Jedenfalls...je nachdem, ob Du ihn mit einrechnest, habe ich bisher... 472 ¾ Menschen gegessen...plus der, die ich wahrscheinlich von anderen davor bekommen habe. Es wird Winter, wir hungern und werden krank, Leute krepieren... und plötzlich gab es wieder Fleisch im Überfluss, das kann mir keiner erzählen...
Naja, die Sache ist, dass ich das Alles nicht wirklich bereue....also...schon son bisschen, aber die Alternativen wären nicht besser gewesen.
Und ich garantiert so damit weitermachen werde, ob ich heute ex gehe oder nicht...
Oh, und ich habe mir ein Piercing und ein Tattoo machen lassen... aber sag das bitte nicht Abuela, die würde sich da im Grabe umdrehen, wenn ich sie nicht eingeäschert hätte...
....
Das tut mir wirklich leid, Padre. Dass ich so ein hoffnungsloser Fall bin...“
Sie wartete.
Vogelgezwitscher drang von draußen an ihre Ohren.
Sie wartete weiter.
Die Ruhe und der Frieden des Ortes gingen auf sie über. Léo fühlte sich seltsam leicht und warm von innen. Ein merkwürdiges Gefühl, dass ihr garnicht mehr bekannt war.
Vorsichtig hob sie den Blick sah sich um.
Nichts außer malerischer Schönheit.
„O...kay,,, ich nehme das mal als Vergebung an.... Muchas Gracias Padre...
Ich würde dann gerne noch einen Augenblick den Verstorbenen ...ja... halt an sie denken und so...“
Wieder war naturbelassene Stille die Antwort.
Langsam ging Léo zu Álvaro, um den schwarzen Jutebeutel an der Seite abzubinden.
Zurück am Altar legte sie den Jutebeutel darauf ab und löste einen kleinen Strauß an orangegelb-leuchtenden Blüten ab. Es waren lange nicht genug für all die guten Leute, deren Tod sie über die Jahre miterleben musste.
Zuerst eine für ihre Abuela und stellvertretend für alle in ihrer Familie. Die Zweite war für die kleine Familie inmitten des Kirchenganges. Eine für Vincent, für Will, die beide schmerzlich in der Gruppe fehlten. Dann eine für Bacari. Eine für Alice, für Andris, für Isabelle, für Axel, für Nikita, für Travis, Mike, Nikita, Michael, Helena. Merkwürdig, dass sie sich noch so gut an diese Namen von Sydney erinnern konnte, kaum aber an die meisten der guten Menschen, die sie später aufgenommen hatten.
Eine letzte für alle, die die Leute, die sie jemals leiden konnte, verloren haben und die, deren Namen sie vergessen hatte.
Wieder ging sie in die Knie und gedachte dieser Menschen. Jeder von ihnen hatte so viel geleistet und hatte den Tod nicht verdient.
Nach einer Weile ging Léo dazu über, um ein gutes Schicksal für die zu bitten, dessen Schicksal ihr nicht bekannt war. Vor allem Ian, Clover und Alistair und Noah, die sie nach nichtmal einem Jahr verlassen hatte. Bis heute war sie sich sicher, dass das ein riesiger Fehler gewesen war. Sie waren ihre Familie geworden und sie hatte sie wortlos verlassen.
Immer ging sie davon aus, dass sie ebenfalls gestorben waren, aber ganz tief in ihr hoffte sie so sehr, dass es ihnen gut ging und sie sie vielleicht sogar eines Tages wiedersehen würde. Selbst bei ihrer Mama würde sie alles darum geben, zu erfahren, dass sie noch lebte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich die Latina wieder, bekreuzigte sich und näherte sich dem Beet mit der fast schon mumifizierten Familie.
Langsam ging sie in die Hocke und betrachtete das Bild eingehend.
„Denk nicht mal dran...
Ich werde sehr vorsichtig sein, und ich habe ihrer intensivst gedacht. Du bist in einer gottverdammten Kirche Léo und hast gerade gebeichtet.
Ja, und der Padre hat mir vergeben, dass ich mich nicht ändern werde. Und Du hast gerade Gottes Namen in den Schmutz gezogen. Dafür willst Du gleich Leichenfledderei in einer Kirche betreiben.
Ach, und Du wirst mich jetzt aufhalten, oder wie? Nein, aber ich werde dann nie mehr mit Dir reden. Wenn Gott Dich dafür nicht verlässt, tu ich es.
Klar. Das ist mein Ernst, Leocadia.
Ich habe schon so viele Leichen untersucht und noch war mir so wichtig, dass sie unversehrt bleiben., Ich werde sie danach auch anständig mit...der Gardine aus dem Hotel abdecken. Sie haben vielleicht etwas wirklich Nützliches bei sich. Hör Dich mal selber reden.
In meinem Leben habe ich schon viel, viel Schlimmeres getan und es war Dir absolut Schnuppe. Aber jetzt nicht mehr. Warum diskutierst Du überhaupt, wenn Du so sicher bist, dass Dich Dein bester und engster Freund nicht verlassen wird?
....weil Du mir das niemals antun würdest. Dann mach das doch und wir werden sehen, ob ich danach noch da bin....
Álvaro hatte dabei nichtmal die Cojones, sie anzusehen. Er starrte immernoch unerbitterlich zu Boden.
Er bluffte nur.
Allerdings raste Léos Puls und ihre Hände zitterten wieder. Schweißperlen traten ihr ins Gesicht.
Kurz zuckte sie zurück, als ein kleiner Schmetterling aufflatterte. Vielleicht der letzte des Sommers.
Tief atmete Léo durch und begann die Familie sehr behutsam erst mit bloßem Auge auf Nützliches zu untersuchen und dann, darauf bedacht, keinen zu großen Schaden an den Leichen anzurichten, auch intensiver mit Händen nachzusehen. (evtl. Ermittlerprobe?)